Um zu erfahren, was Menschen tun, musst du sie beobachten. Zum Beispiel in Usability-Tests. Ein paar Erkenntnisse gewinnst du dabei auch dazu, was sie vielleicht brauchen könnten. Noch mehr findest du heraus, wenn du die Menschen nicht im Labor beobachtest, sondern im Alltag. Das nennt sich dann Contextual Inquiry oder Vor-Ort-Beobachtung. Dabei zeigen dir die Probanden, wie sie bestimmte Alltagsaufgaben im Beruf oder im Privaten angehen.
User Researcher setzen also vor allem auf die Beobachtung. Der Usability-Experte Jakob Nielsen meint sogar:
„First Rule of Usability? Don’t Listen to Users.“
Und doch: Mit Nutzern zu sprechen bringt immer etwas. Du musst nur wissen, was du sie fragen solltest, was du erwarten kannst und vor allem: wie du die Antworten interpretierst. Dann sind Interviews eine höchst effektive und empfehlenswerte Methode. Das meint sogar Jakob Nielsen.
Nutzerinterviews in der qualitativen Forschung
Nutzer können dir erzählen, was sie tun. Wie sie die Aufgaben erledigen, die du mit deiner Anwendung/App oder Website anbietest. Sie können dir verraten, wie sie heute dabei vorgehen, ob sie digitale oder analoge Hilfsmittel dabei einsetzen. Welche Konkurrenzprodukte sie nutzen und warum. Was sie an diesen gut finden und was nicht.
Je mehr dich dabei Details interessieren, desto eher solltest du das Interview dort führen, wo deine Interviewpartner diese Aufgaben auch erledigen – also bei ihnen im Büro oder zu Hause. Denn dann kannst du dir direkt zeigen lassen, was sie tun. Damit bist du schon bei der Contextual Inquiry (Vor-Ort-Beobachtung) – die Grenzen zum Interview sind fließend.
Aber wenn dein Ziel eher ist, neue Funktionen zu entwickeln, auf Ideen zu kommen, wie man den Menschen neue Produkte und Dienstleistungen anbieten kann, die sie wirklich brauchen, dann bist du beim klassischen Interview – du fragst, die Nutzer antworten. Einfach und effektiv.
Was du in solchen Gesprächen gut herausfindest:
- Welche Einstellungen haben die Menschen zu dem Bereich, in dem du tätig bist?
- Welche Werte sind ihnen wichtig?
- Wer berät oder beeinflusst sie, wenn sie eine Kaufentscheidung treffen?
- Wem vertrauen sie?
- Wie informieren sie sich?
- Welche Sorgen haben sie?
- Was erfreut sie?
Was du dagegen kaum herausbekommst sind Fragen wie:
- Welche Funktionen nutzen sie regelmäßig?
- Warum haben sie ein bestimmtes Verhalten gezeigt, eine bestimmte Entscheidung getroffen?
- Welche Funktionen machen ihnen die meisten Probleme?
- Welche Funktionen würden sie in Zukunft nutzen?
- Wieviel würden sie ausgeben, um ein bestimmtes Produkt zu kaufen/nutzen?
Wenn du sie nach solchen Sachen fragst, dann werden sie dir antworten. Sie werden sogar der Meinung sein, dir ehrlich und korrekt zu antworten. Unzählige Untersuchungen haben aber gezeigt: Solche Antworten sind meistens ziemlich falsch. Unser Gedächtnis ist zum einen ziemlich schlecht. Zum anderen wollen wir alle unbewusst anderen Menschen einen Gefallen tun, und ihm weiterhelfen.
Fragst du Nutzer z.B., wie häufig sie die Funktion eines Programmes nutzen, die es gar nicht gibt, dann werden dir etliche Befragte antworten, dass sie die Funktion häufiger verwenden. Manche, weil es ihnen peinlich ist, zuzugeben, dass sie die Funktion nicht kennen. Andere, weil sie sich wirklich zu erinnern meinen, die Funktion genutzt zu haben.
Wir sind schlecht darin, die Zukunft vorherzusagen
Besonders vorsichtig sein musst du mit Fragen, welche die Zukunft betreffen. Denn wir Menschen sind erstaunlich schlecht darin, die Zukunft vorherzusagen. Selbst unser eigenes Verhalten in der Zukunft können wir nur extrem schlecht prognostizieren.
Die Faustregel ist: Frage die Nutzer nur über die Gegenwart, nicht über die Zukunft oder die Vergangenheit.
Tipps zum Durchführen von Interviews
Kaum verlässliche Antworten bekommst du z.B. auf diese Frage: „Glauben Sie, dass Sie in 3 Jahren eine VR-Brille nutzen werden?“.
Dagegen kannst du fragen: „Stellen Sie sich vor, sie bekommen eine VR-Brille geschenkt. Was würden Sie als erstes ausprobieren?“.
Mit der Frage bekommt du einen Eindruck, was dein Gesprächspartner mit der Technologie verbindet, an welche Anwendungen er als erstes denkt. Was du ohne Prototyp nicht rausbekommst, ist ob er das dann auch wirklich so machen würde.
Statt: „Wie viel würden Sie ausgeben, um einen Sprachassistenten nutzen zu können, der Termine für Sie ausmacht?“
Fragst du besser: „Wir haben einen Sprachassistenten entwickelt, der Termine für Sie ausmacht. Wollen Sie diesen kaufen?“
Bei dieser Frage muss dein Gesprächspartner darüber nachdenken, ob er wirklich Geld lockermachen will. An seiner Reaktion merkst du, ob er nur „prinzipielles“ Interesse hat, oder ob er wirklich ein potenzieller Kunde ist.
Und schließlich – statt: „Wo würden Sie gern arbeiten?“
Fragst du lieber etwas Konkretes: „Wenn Sie an ihre letzte Arbeitswoche zurückdenken: Was hat Ihnen am meisten Freude gemacht?“
Damit bekommst du ein Gefühl dafür, was dein Gegenüber an seinem Job schätzt, wo er Zufriedenstellung erfährt. Und außerdem erinnern wir alle uns besonders gut an sehr positive und sehr negative Ereignisse – die mittelmäßigen vergessen wir schnell.
Wen interviewe ich am besten?
Wie bei Usability-Tests gilt bei Nutzer-Interviews: Je näher du an deiner Zielgruppe bist, desto besser. Und das gilt für Nutzer-Interviews sogar noch mehr. Denn auch ein ungeeigneter Proband findet vermutlich einige Usability-Probleme in einem Test, die auch die Zielgruppe betreffen würde. Aber wenn jemand nicht zu deiner Zielgruppe gehört, dann kann er dir nicht über die Nöte und Freuden deiner Zielgruppe berichten, nur von seinen eigenen.
Willst du also etwas entwickeln für B2B-Nutzer, etwa für Manager, die eine Business-Anwendung nutzen, dann solltest du mit diesen sprechen. Richtest du dich an weibliche Teenager, dann sind auch das deine Gesprächspartner – wobei du in dem Fall vielleicht auch über Eltern mit Kindern in diesem Alter Erkenntnisse gewinnen kannst.
Generell ist der Schlüssel dazu, Interviewpartner dazu zu bringen, mit dir zu sprechen: Mache ihnen klar, dass du ihnen zuhörst, dass du dich für seine ganz persönlichen Ansichten und Probleme interessierst. Das findet praktisch jeder Mensch toll. Wann findet man schon mal jemandem, der einen eine halbe Stunde oder länger aufmerksam zuhört, während man von sich und seinen alltäglichen Problemen erzählt?
Wie führe ich effektive Nutzerinterviews?
Als Erstes bedankst du dich bei deinem Interviewpartner, dass er sich Zeit nimmt für dich. Dann stellst du dich ganz kurz vor – nur so viel, dass er Vertrauen gewinnt und ihm klar ist, mit wem er es zu tun hat. Erwähne, wie lange das Interview dauern wird.
Dann erklärst du deinem Gegenüber, was du mit den Erkenntnissen vorhast und warum diese wichtig sind. Schließlich musst du dir noch sein schriftliches Einverständnis holen, wenn du eine Aufzeichnung machst.
Es ist es wichtig, eine gute Gesprächsatmosphäre schaffen. Das machst du eigentlich nur durch Freundlichkeit und aufmerksames Zuhören. Viel sagen musst du nicht, am besten funktioniert es, wenn du deinen Gesprächspartner immer wieder ansiehst, bestätigend nickst und Zustimmung durch „hm“ und „aha“ äußerst.
Die Hauptfähigkeit, die du für Nutzer-Interviews brauchst, ist gut zuhören zu können. Dein Redeanteil sollte nur bei wenigen Prozent liegen. Deine Fragen bringen dein Gegenüber dazu, zu erzählen. Du hältst dich mit deiner Meinung ganz zurück, urteilst nicht und stellst nur Fragen, um das Gespräch am Laufen zu halten. Fast immer läuft das dann ganz von selbst.
Frage aber nach, um Dinge zu klären. Scheue dich nicht, auch vermeintlich dumme Fragen zu stellen. Mir ist es noch nie passiert, dass mich Interviewpartner schief angesehen haben wegen einer Nachfrage. Normalerweise freuen sie sich, wenn sie etwas erklären können, wenn sie uns weiterhelfen.
Praktisch jeder Mensch freut sich, wenn man ihm zuhört. Daher sind auch die meisten Menschen, selbst vielbeschäftigte Geschäftsleute, bereit, dir in einem Interview Rede und Antwort zu stehen. Und nach meiner Erfahrung berichten sie ausführlich und offen von ihren Problemen. Selbst über betriebliche Interna oder Privates sprechen sie dann überraschend freizügig.
Am Schluss des Interviews bedankst du dich für die Zeit und die wertvollen Informationen, welche dein Gesprächspartner dir gegeben hat.
Leitfadeninterview-Beispiel – Fragenkatalog
Es ist sinnvoll, wenn du dir einen so genannten Leitfaden für das Interview erstellst. Das ist nichts weiter als eine Liste mit Fragen und evt. Dingen, auf die du noch achten möchtest.
Als „Leitfadeninterview“ bezeichnet man jedes Gespräch, bei dem du einen solchen Leitfaden verwendest. Dabei macht es praktisch niemand so, dass er die Fragen immer in der Reihenfolge stellt, wie sie im Leitfaden steht. Das kannst du tun, wenn du wenig Erfahrung hast. Für den Gesprächsablauf ist es aber besser, sich auf das Gegenüber einzulassen und dem Gesprächsfluss zu folgen, der sich ergibt.
Manchmal passen Fragen auch nicht in der jeweiligen Situation. Ich hatte z.B. neulich ein Gespräch mit einem Krisenmanager, der von einem schweren Unfall erzählt hat und wie er damit umgegangen ist. Auf meinem Leitfaden war die nächste Frage, was ihm an seinem Job am meisten Spaß macht – klar, dass ich diese Frage dann lieber später gestellt habe.
Der Leitfaden hilft dir im Vorfeld, klar zu definieren, was du überhaupt im Gespräch herausfinden willst. Und wenn du ihn im Interview auch verwendest, dann hilft dir der Leitfaden, dass du keine Themen vergisst oder am Ende feststellst, dass die Zeit nicht mehr reicht, um einen wichtigen Aspekt anzusprechen.
Fazit – Nutzer fragen lohnt sich immer, wenn du das Richtige fragst
Wie gesagt: Nutzer wissen nicht, was sie wollen. Wenn du sie das fragst, werden sie dir antworten, aber diese Antworten sind vollkommen ungeeignet, um z.B. Funktionen einer Anwendung oder einer Website oder App festzulegen.
Dagegen kannst du in Interview sehr viel lernen darüber, wie die Nutzer ticken. Was sie motiviert oder was sie ärgert. Warum sie morgens aufstehen und was sie in ihrem Job zur Weißglut treibt.
Solange du insbesondere Aussagen über die Zukunft nur sehr kritisch interpretiert, kannst du kaum etwas falsch machen und du lernst sehr viel über deine (potentiellen) Nutzer.
Und du bekommst wertvolle Erkenntnisse darüber, was deine Zielgruppe umtreibt. Gerade für die Verbesserung von Produkten oder die Entwicklung von neuen Diensten und Anwendungen sind Interviews sehr hilfreich – wenn du z.B. noch gar keine Prototypen hast, die du testen könntest. Somit können Nutzer-Interviews eine sinnvolle Ergänzung in deinem Werkzeugkasten an User-Research-Methoden sein.