Im vergangenen Jahr waren wir auf Konferenzen und Kongressen, um darüber zu sprechen, wie wichtig und bedeutsam agile Vorgehensweisen in der Marktforschung sind und sein müssen. Als wir im Mai 2016 zum ersten Mal in Berlin auf der großen Bühne des BVM-Kongresses über agile Marktforschung sprachen, waren wir im Marktforschungsumfeld doch eher die Outsider. Alle anderen Vorträge beschäftigten sich verängstigt mit der Digitalisierung und wie diese die Marktforschung langsam verdrängen würde. Von Eric Ries und Jeff Sutherland hatte bisher kaum einer gehört, und wir merkten: Die Themen Lean Startup und Scrum waren der Branche fremd.

In der zweiten Jahreshälfte 2016 reisten wir weiter durch die Welt, waren in New Orleans, München und Amsterdam. Während agile Arbeitsweisen in anderen Branchen wie der Software und dem Design längst im Trend sind, entwickelte sich „agil“ zu einem Buzzword, das nun auch die Marktforschung aufhorchen ließ. Das Problem mit Begriffen, die aus spezifischen Fachbereichen kommen und dann in die Alltagssprache eingegliedert werden, ist, dass man nur schwer zurück zum Ursprung findet, zur eigentlichen Bedeutung. Sobald sie einmal in aller Munde sind, bauen sich Definitionen, Ansprüche und Erwartungen auf und verselbstständigen sich.

Als Leiter einer Agentur macht mir diese Verselbstständigung ein wenig Sorgen. Denn es gibt in letzter Zeit eine Kluft zwischen dem, was agile Prozesse sein sollen, und dem, wie sie oft verstanden und kommuniziert werden. Aus diesem Grund möchte ich gerne zwei Aspekte aufgreifen, die viele Unternehmen (unabhängig davon, ob Kunde oder Dienstleister) aus meiner Sicht beachten sollten.

Agiler Marktforschungs Prozess

Agile Marktforschung ist nicht mit schnelleren Prozessen gleichzusetzen

Natürlich betrifft Agilität die Geschwindigkeit von Prozessen. Aber wenn man sich den Ursprung von agilen Prozessen anschaut, geht es doch viel mehr um Flexibilität und Automatisierung. Schauen wir uns die beiden Aspekte einmal an.

Flexibilität

Agile Prozesse beruhen darauf, dass man kleine Teile eines großen Plans umsetzt und zügig gegensteuert, wenn sie nicht funktionieren oder nicht akzeptiert werden. Das bedeutet, dass Flexibilität mit Ergebnisoffenheit einhergeht und natürlich auch mit der Fähigkeit, seine eigenen Ideen, an denen man lange getüftelt und gearbeitet hat, auch einmal über den Haufen zu werfen. Und während sich die allermeisten einig sind, dass das in Ordnung ist, wenn es dem Produkt dienlich ist, sieht es in der Umsetzung doch häufig anders aus.

Diese Fähigkeiten sind kulturell bedingt und in anderen Ländern oder Kulturen deutlich besser ausgeprägt als in Deutschland. Das macht auch nichts, aber man muss sich dessen bewusst sein. Denn ansonsten wird Flexibilität häufig einfach nur mit Geschwindigkeit gleichgesetzt und somit geht unter, dass das Ergebnis im flexiblen Prozess weitgehend offen ist – zumindest innerhalb eines gewissen Korridors. Und noch ein letzter Satz hierzu: Nicht alle Prozesse innerhalb eines Unternehmens müssen flexibel sein. Auch das ist eine sehr wichtige Erkenntnis, die leicht vergessen werden kann, wenn auf einmal alles agil, flexibel und digital sein muss. Flexibel dürfen die ergebnisoffenen Aspekte sein, z. B. die Produktentwicklung bzw. -gestaltung. Buchhalterische Prozesse sollten es vermutlich nicht sein. Aber kommen wir nun zum zweiten wichtigen Baustein.

Automatisierung

Automatisierung hilft uns Menschen und Marktforschern, Zeit und Geld in Prozessen zu sparen, bei denen uns die Maschinen wie Laptops und Smartphones ohnehin überlegen sind. Denn es gibt eine Vielzahl von tollen und einfachen Tools und Services da draußen, die uns unterstützen können, z. B. greift Alteryx auf unterschiedliche Datensets zurück und verknüpft diese logisch und einfach, Tableau kann bei der Datenvisualisierung helfen und wer sich halbwegs mit API-Systemen auskennt, kann die verschiedenen Tools, z. B. Slack, Pipedrive und Trello, so sinnvoll miteinander verknüpfen, dass der Arbeitsaufwand für alle Beteiligten signifikant sinkt.

Automatisierung hilft uns also, einige Prozesse zu verschlanken und Zeit zu sparen. Allerdings gibt es auch hier noch häufig kommunikative Missverständnisse. Wir erhalten einige Anfragen, die Geschwindigkeit betonen, allerdings nicht die, die durch Automatisierung entsteht, sondern die, die einfach durch schnelleres menschliches Arbeiten entsteht.

Während von uns Agilität erwartet wird – hier dann häufig gleichbedeutend mit schneller Ergebnislieferung bei gleichbleibender Qualität und gleichem Timing –, belassen Auftraggeber ihre internen Prozesse und damit ihre eigene Arbeitsweise beim Alten. Das führt dann in der Tat zu Überstunden, nicht haltbaren Timings, Wochenendarbeiten und das wiederum zu einem exzessiven und dadurch ungesunden Kaffeekonsum.

Und wie lösen wir das Dilemma nun? Geht raus, sucht oder erschafft euch digitale Helfer. Versucht, die Prozesse ausfindig zu machen, die Zeit kosten, nicht effektiv durch menschliche Hände gestaltet werden können und letztlich nichts mit der wahren Wertschöpfung, d. h. Ergebnisse interpretieren, Storys finden und Insights herausziehen, zu tun haben.

Es ist oft nicht ganz einfach, umzudenken. Aber genau dieser Aspekt – UMDENKEN – ist einer der wichtigen Erfolgsfaktoren, wenn es um die Einführung agiler Arbeitsweisen geht. Neue Methoden und der Einsatz von Tools und Services sind ebenfalls wichtig, aber wer sich nicht geistig darauf einstellt, anders zu arbeiten, der wird Agilität wohl weiterhin mit Geschwindigkeit verwechseln.

Agile Marktforschung: Stelle die Erkenntnisse in den Vordergrund

Wenn Kunden schnelle Ergebnisse benötigen, die die Entwicklung von Produkten und Services vorantreiben, dann müssen wir gemeinsam mit ihnen die Erwartungen und Arbeitsweisen neu definieren. Denn meist stammen Erwartungen noch aus der Zeit, als drei bis vier Wochen für die Auswertung und die Darstellung in PowerPoint vorgesehen waren.

Ich behaupte nicht, dass weniger Zeit mit geringer Qualität gleichzusetzen ist. Keinesfalls. Fakt ist jedoch, dass es ein neues Spiel ist, wenn wir morgens Interviews durchführen, um abends KPI Charts zu liefern, eine kurze Ergebnispräsentation zu halten und mit dem Team am nächsten Morgen über die nächsten Schritte zu sprechen. Dann müssen wir uns gemeinsam darauf einstellen, dass keine vier Iterationen für den Fragebogen möglich sind und auch keine Präsentationsentwürfe vorab geliefert werden. Bei agilen Ansätzen stehen die Erkenntnisse im Vordergrund und auf diese allein kommt es an. Für diese sollte man folglich Platz schaffen. Wir brauchen mehr Raum für Inhalt, weniger Raum für Formatierungen.

Ich habe an dieser Stelle schon fast alle Fehler gemacht, die man machen kann. Zu Beginn unserer agilen Arbeit habe ich versucht, die bestehenden Prozesse einfach nur schneller abzuarbeiten. Aber das funktioniert einfach nicht. Letztlich geht meiner Erfahrung nach in großen Teilen um Erwartungsmanagement.

Wenn das Timing für klassische Ergebnisaufarbeitung und anschließende -präsentation zu knapp ist, rate ich zu Folgendem: sich innerhalb des Teams in Ruhe Gedanken zu machen, dann Post-its, Stifte und ein paar Flipcharts einzupacken und die Ergebnisse gemeinsam mit dem Kunden zu erarbeiten. Denn wer sich auf die Key Insights einer Fragestellung konzentriert, kann auch darauf verzichten, ein 50-seitiges Dokument zu erstellen. Im Übrigen führt gerade diese Veränderung des Projektablaufs dazu, dass Unternehmen und Agentur näher zusammenrücken. Gerade bei Zeitknappheit muss man sich auf seine Partner verlassen können, exakt kommunizieren und in der Arbeitsgruppe vermitteln bzw. wissen, was wer warum wann benötigt und wie man am besten an die Erkenntnisse rankommt.

Zusammenfassung

Der Stretch zwischen agilen Prozessen und dem Festhalten an bestehenden Erwartungen bzw. Erfahrungen ohne Kompromisse wird auf lange Sicht nicht zufriedenstellend sein. Dabei sind agile Prozesse sehr spannend. Denn sie fokussieren das, was wirklich zählt: den Inhalt.

Wenn man sich nicht mehr an Folien, Feedback-Schleifen und Formatierungen festhält, dann hat man die Komfortzone verlassen. Und das ist auch richtig und wünschenswert in unserem Berufsfeld. Agilität und Umdenken sind wichtig, werden immer wichtiger und sind eine der Herausforderungen, die wir annehmen müssen, um erfolgreich zu bleiben.

Abschließen möchte ich diese Gedanken mit einem Zitat von Pearl Zhu (Autor von Digitizing Boardroom), die mal sagte: „Agile is not just a methodology, but a set of principles and philosophy.” In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß und Erfolg beim Umdenken, Philosophieren und Erkenntnisse-Sammeln.

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