Inhaltsverzeichnis

1. Der Aufstieg auf der UX-Reifegrad-Skala
1.1 Gemeinschaften für gegenseitige Hilfe
1.2 Anders als die Konkurrenz, aber gleich für Mitglieder
1.3 Gemeinsamer Blick auf die Wichtigkeit von UX

2. Einführung von Lean UX für eine Kultur des Lernens und der Neugier
2.1 Verschiedene Arten von Forschung, die unterschiedliche Ziele anvisieren
2.2 Eine kritische Überprüfung der gesamten Nutzererfahrung
2.3 Die Wahrheitskurve zum Experimentieren
2.4 Kommunikation von Erkenntnissen mit den verschiedenen Teams
2.5 Kontinuierliche Überprüfung der Kundenzufriedenheit

3. Geänderte Umstände aufgrund des Coronavirus
4. Interne und externe Rekrutierung von Testpersonen
5. Schnelle Nutzertests sind besser als keine

1. Der Aufstieg auf der UX-Reifegrad-Skala

Francesc Pérez ist 2013 zu giffgaff gekommen. Bevor er sich der Firma anschloss, arbeitete er als Frontend-Webentwickler von Telefonica’s Produktentwicklungs- und Innovationsteam in Barcelona. Dort war er Teil des Remote Teams, das giffgaff.com in seiner Anfangszeit 2009 designt und entwickelt hat.

Im Januar 2013 gab giffgaff Francesc die Möglichkeit nach Großbritannien zu kommen und sich dem Team anzuschließen, um dabei zu helfen das Frontend Entwicklungsteam aufzubauen und zu leiten. Zwei Jahre später setzte Francesc sich für die Idee der Bildung eines Teams mit UX als primären Fokus ein. Zu dieser Zeit war bei giffgaff niemand direkt für UX zuständig. Nachdem er die Stakeholder von der Wichtigkeit eines solchen Teams überzeugt hatte, bekam er die Möglichkeit ein solches aufzubauen. Obwohl Francesc zu dieser Zeit sehr wenig Erfahrung auf dem Gebiet der Bildung eines UX Teams hatte, halfen ihm seine Leidenschaft für UX sowie seine Strebsamkeit dabei, schnell in diese Rolle hineinzuwachsen. Er hatte auch das Glück, außergewöhnliche Leute an Bord zu haben, die ihm halfen, den Wert einer guten Benutzererfahrung intern zu verkaufen.

Seit 2015 wächst das User Experience Team kontinuierlich. Mittlerweile besteht es aus einem Produktteam, UX-Designern, UX-Inhaltsschreibern und einem Design-System-Team. In seiner derzeitigen Rolle als Leiter des Product Designs arbeitet Francesc mit den Produktteams zusammen und unterstützt die anderen Giffgaff-Designer.

1.1 Gemeinschaften für gegenseitige Hilfe

giffgaff hat immer an eine bessere Möglichkeit, sich zu vernetzen, geglaubt. Sie sind das von ihren Mitgliedern betriebene Mobilfunknetz. Einfachheit und Ehrlichkeit sind ihre zentralen Werte. Aus diesem Grund machen sie keine Verträge und sind davon überzeugt, dass Mitglieder bei ihnen bleiben sollten, weil sie es wollen und nicht, weil sie es müssen. giffgaff betreibt sein Netzwerk ohne Callcenter oder Geschäfte. Alles ist online. Die Mitglieder helfen sich in den Community-Foren gegenseitig. Als Mitglied kann man einfach eine Frage eingeben und innerhalb von 90 Sekunden bekommt man eine Antwort. So lebendig ist die Community. giffgaff Mitglieder können sogar einen Preis für gute Ideen zur Verbesserung des Netzwerkes bekommen. Die Firma setzt darauf, ihren Mitgliedern zuzuhören und hat viele neue Ideen und Angebote aufgenommen, die von den Nutzern vorgeschlagen wurden. Daher kommt auch der Name „giffgaff“. Ursprünglich ist dies ein schottischer Ausdruck, der so viel bedeutet wie gegenseitiges Geben und Nehmen. Dieses Gemeinschaftsgefühl zieht sich durch alles, was sie machen.

1.2 Anders als die Konkurrenz, aber gleich für Mitglieder

giffgaff bietet ausschließlich ein Tarifset an und hält die Tarife so kompetitiv wie möglich. Ihre Datentarife heißen „goodybags“. Anders als viele andere Anbieter bieten sie keine besonderen Tarife für Neukunden an. Und sie bieten keine besonderen Rabatte für diejenigen an, die gehen wollen. Jedes Mitglied von giffgaff zahlt das Gleiche für den gleichen Tarif. Und das ist es, was das Ganze besonders macht. Die Mitglieder fühlen sich nie anders oder unfair behandelt. Oh, giffgaff empfiehlt auch jeden Monat den besten Tarif für jedes Mitglied. Auch wenn das bedeutet, dass das Mitglied weniger zahlen könnte. Das nennt sich Fairness.

1.3 Gemeinsamer Blick auf die Wichtigkeit von UX

UX ist die grosse Leidenschaft von Francesc. Obwohl er es nicht studiert hat, hat es ihn schon seit seinen Anfängen als Frontend- Developer neugierig gemacht. Francesc hatte das Glück im Laufe seiner Karriere mit großartigen Designern zusammenarbeiten und etwas von ihnen lernen zu können. Dank des Angebots von giffgaff ein UX Team zu bilden, konnte er seine Stärken weiterentwickeln und hat die Möglichkeit bekommen das zu tun, was er am meisten liebt. 

giffgaff hat seine Mitglieder immer in den Vordergrund von allem gestellt, was gemacht wurde. Und das ist ein Privileg für jeden UX Experten. Das heißt nicht, dass es immer ein einfacher Weg war, aber gemäß Francesc war es jede Anstrengung wert. In 2019 hat giffgaff sehr viel Fokus auf die Erfahrungen seiner Mitglieder gelegt. Das gesamte Unternehmen wurde dazu eingeladen, sich mit UX zu beschäftigen, einschließlich eines einwöchigen Lean UX-Trainings mit Jeff Gothelf, bei dem alle die Grundprinzipien von UX und Best Practices lernten.

2. Einführung von Lean UX für eine Kultur des Lernens und der Neugier

Im Rahmen der Einführung von Lean UX ist jeder bei giffgaff dazu eingeladen und wird ermutigt, mit den Mitgliedern seines Netzwerks zu kommunizieren. Es gibt kein zentrales Team, das als einziges mit ihnen sprechen darf. Stattdessen sind die Mitarbeiter in ein agiles Produktteam eingebettet und für die Forschung und das Design dieses Produkts verantwortlich. Wenn jemand aus Francescs Team eine Forschungsaktivität durchführt, lädt er häufig verschiedene Mitglieder des Teams, andere Designer und Stakeholder zur Beobachtung ein. Sie machen sich am Ende der Sitzung Notizen und führen mit allen Beobachtern einen Workshop durch, um die Erkenntnisse zu bewerten und über die nächsten Schritte zu entscheiden.

2.1 Verschiedene Arten von Forschung, die unterschiedliche Ziele anvisieren

Bei giffgaff werden verschiedene Arten von Forschung durchgeführt. Derzeit führen sie viele 1:1-Interviews durch, in denen beobachtet wird, wie die Mitglieder mit ihren vorhandenen Produkten zurechtkommen, damit sie sich ein aktuelles Bild der Produkterfahrungen machen können. Diese Interviews sind gut geeignet, um Schwachstellen und Möglichkeiten zur Verbesserung und Innovation zu identifizieren.

Die projektbasierte Ermittlung wird zu Beginn des Projekts durchgeführt, um zu bewerten, ob spezifischere Informationen benötigt werden, die noch nicht erfasst wurden. Zu diesem Zweck verwenden sie verschiedene Techniken wie Umfragen, einfache Beiträge in den Community-Foren, um Feedback von Mitgliedern zu erhalten, Card-Sorting-Übungen, 1: 1-Interviews und Benutzertests. Projektbasierte Usability-Tests werden durchgeführt, sobald der Prototyp fertig ist. Er wird mit den Mitgliedern getestet, um sicherzugehen, dass er in die richtige Richtung geht. Normalerweise ist dies eine 1:1-Testsitzung mit den Benutzern. Es kann sich aber auch um eine Card-Sorting- oder Treejacking-Übung handeln. Im Rahmen seiner agilen Iterationen kann das Team einige dieser Tests während der Durchführung eines Projekts wiederholen.

Alle geschäftskritischen Änderungen werden zuerst durch einen quantitativen A/B-Test eingeführt, um zu bewerten, ob die Änderung positiv ist, und um ihre geschäftlichen Auswirkungen abzuschätzen.

2.2 Eine kritische Überprüfung der gesamten Nutzererfahrung

Francesc ist ein großer Fan aktueller Forschungsergebnisse. Seiner Erfahrung nach ist es sehr leicht, diese zu vergessen und sich in die täglichen Projekte hineinziehen zu lassen. Mit diesen Projekten kann jedoch nur beobachtet werden, wie Mitglieder bei einem kleinen Teil der gesamten Erfahrung reagieren. Die Dinge ändern sich im Laufe der Zeit. Die qualitative Beobachtung der gesamten aktuellen Erfahrung aus der Sicht verschiedener Mitglieder, auch wenn sie sich auf einem sehr hohen Niveau befindet, wirft oft Licht auf viele Aspekte ihrer Erfahrung, die verbessert werden könnten.

2.3 Die Wahrheitskurve zum Experimentieren

giffgaff passt die Lean UX-Prinzipien auf die Art und Weise, wie sie ihre Forschung betreiben, an. Anstatt ein oder zwei Wochen eine teure Einzelforschung zu planen und Zeit darin zu investieren (das haben sie in der Vergangenheit gemacht), nutzen sie lieber das, was Jeff Gothelf die „Wahrheitskurve“ nennt. Grundsätzlich beginnen sie mit wenig Forschungsaufwand. Es könnte beispielsweise nur das Testen einer Papierskizze mit ein paar Kollegen sein. Und dann wird der Aufwand schrittweise erhöht, um das notwendige Vertrauen zu gewinnen. Der letzte Schritt ist die Durchführung eines Live A/B-Tests.

2.4 Kommunikation von Erkenntnissen mit den verschiedenen Teams

Der erste Ansatz von giffgaff besteht darin, die relevanten Mitglieder des Teams in die Beobachtung der Forschung mit einzubeziehen und die Erkenntnisse nach den Sitzungen im Rahmen eines Workshops gemeinsam zu diskutieren. Dadurch kann die Wartezeit für den Forscher, der eine Zusammenfassung des Forschungsprojektes erstellen soll, verkürzt werden. Dies wird zwar in jedem Fall erledigt, aber auf diese Weise geht es viel schneller. Anschließend werden die Erkenntnisse als eine Reihe von Empfehlungen oder nächsten Schritten strukturiert. Diese führen oft zu einer Idee für einen A/B-Test.

Um Insights mit den verschiedenen Teams zu kommunizieren, bietet giffgaff viele Möglichkeiten. Unter anderem haben sie eine Insights-Gruppe. Ausserdem werden alle zwei Wochen Erfahrungs-Demos durchgeführt, bei denen jedes Produktteam teilt, woran es gerade arbeitet. Und jedes Quartal gibt es eine Wissenschaftsmesse, bei der die gesammelten Erkenntnisse erweitert werden können. Derzeit gibt es keinen zentralen Knotenpunkt, an dem alle generierten Erkenntnisse gespeichert werden können. Die verbale Kommunikation ist also der Schlüssel. Giffgaff plant jedoch, mit seiner Insights-Gruppe einen Knotenpunkt für Insights aufzubauen.

2.5 Kontinuierliche Überprüfung der Kundenzufriedenheit

Giffgaff legt großen Wert auf seinen Net Promoter Score (NPS). Laut Francesc überprüfen sie ihn fast jeden Tag. Derzeit sind sie auf 67, genau wie Amazon und Netflix. Sie sind sehr stolz darauf und streben die 70 an.

Außerdem führt giffgaff regelmäßig Umfragen durch, die an alle Mitglieder verschickt werden. Ihre Community-Foren sind auch eine gute und wichtige Quelle, um herauszufinden, was sie besser machen können. giffgaff nutzt die Foren, um Mitglieder über neue Dinge, an denen sie arbeiten, zu informieren und um Feedback zu erhalten.

Darüber hinaus spricht das Team regelmäßig mit seinen Experten, den sogenannten „Agenten“. Die Mitglieder des Netzwerkes von giffgaff wenden sich an diese Agenten, falls sie Unterstützung benötigen. Auf der Webseite und in den Apps stehen den Mitgliedern Tools zur Verfügung, um Feedback zu hinterlassen. Das Feedback wird ständig beobachtet. Die Data Science- und Business Intelligence-Teams unterstützen das Produktteam bei der Analyse von Daten.

3. Geänderte Umstände aufgrund des Coronavirus

Vor einigen Jahren hat giffgaff ein Mini-Labor eingerichtet, in dem persönliche Interviews und Benutzertests durchgeführt werden können. Aufgrund des Coronavirus arbeiten jetzt alle Mitarbeiter des Unternehmens von zu Hause aus, sodass das Labor nicht mehr genutzt wird. Das Team verwendet Zoom als Alternative aus der Ferne (weitere Tools finden Sie in diesem Artikel). Francesc und sein Team vermissen die persönlichen Gespräche mit den Teilnehmern, aber die Forschung aus der Ferne tut es auch. Auf der anderen Seite hat das Testen aus der Ferne den Vorteil, dass mit jedem gesprochen werden kann, egal wie weit entfernt derjenige von dem Ort ist, an dem sich der Forscher befindet. Dies hilft, eine differenziertere Perspektive auf die Bedürfnisse der Mitglieder zu bekommen. Am wichtigsten ist, dass nach wie vor genauso viel geforscht wird wie vorher und dass giffgaff die Forschung auch nicht aufgeben wird. Eine gute UX kann ohne Forschung nicht erreicht werden.

4. Interne und externe Rekrutierung von Testpersonen

Das Unternehmen hat zwei Quellen, wenn es Teilnehmer für seine Forschung benötigt. Wenn sie mit giffgaff-Mitgliedern sprechen müssen, rekrutieren sie aus ihrem internen Pool. Dabei handelt es sich um eine ausgewählte Gruppe von Mitgliedern, die von giffgaff „Pioniere“ genannt werden. Diese Mitglieder haben der Teilnahme an Forschungsaktivitäten zugestimmt. Dieser Pool wird von seinem eigenen Engagement-Team verwaltet

Ihre zweite Quelle ist ein externer Pool von TestingTime. Wir helfen den Forschern bei der Rekrutierung von Nicht-giffgaff-Mitgliedern (oder potenziellen Mitgliedern) sowie von Mitgliedern, die nach bestimmten Kriterien ausgewählt wurden und die sie in ihrer Pioniergruppe niemals finden würden. 

Die Rekrutierung von Teilnehmern nach bestimmten Kriterien ist keine leichte Aufgabe. giffgaff würde einen viel größeren Pool von Testpersonen benötigen. Ein externer Vermittler, der dabei hilft, die Lücken zu schließen, war die einzige Lösung. Ein ehemaliges Mitglied des Teams, das auf UX-Forschung spezialisiert war, führte TestingTime bei giffgaff ein. Einer der Gründe, warum giffgaff sich für TestingTime und nicht für eine UX-Forschungsagentur entschieden hat, war die Kostenreduzierung. Sie überwachten bereits alle Forschungssitzungen selbst, hatten ein eigenes Labor und benötigten nur noch die Teilnehmer.

“Wir lieben TestingTime. Das Niveau des Services ist hoch. Sie rekrutieren pünktlich, wir mussten noch keine Sitzung aufgrund von Rekrutierungsproblemen verschieben. Die Teilnehmer sind pünktlich. Andernfalls bietet TestingTime immer einen Ersatz für den nächsten Tag. Am Ende der Sitzungen bittet TestingTime uns um Feedback für jeden Teilnehmer.”
Francesc Pérez, Leiter des Produktdesign

5. Schnelle Nutzertests sind besser als keine

Nach Francescs Meinung werden weniger formale Forschungsformen oft unterschätzt. Und das lässt die Teams glauben, dass sie viel Zeit investieren müssen, um „richtige“ Forschung zu betreiben. Und am Ende tun sie nichts. Die Lean UX-Forschung hat ihn und den Rest seines Teams gelehrt, dass man auch bei informellen Tests mit geringerem Aufwand schnell etwas dazulernen kann. Es geht um das Maß an Unsicherheit und Risiken. Die Anwendung eines „abgespeckten“ Ansatzes für die Forschung ist ein effizienter Weg, um mehr Selbstvertrauen zu gewinnen. Mit anderen Worten, so kann man Unsicherheiten reduzieren. Wenn man weiß, dass man auf dem richtigen Weg ist, dann fühlt es sich weniger riskant an mehr Zeit, Ressourcen und Aufwand in formellere Tests investieren. Man fühlt sich sicherer.